Oberkirchenrat Prof. Mag. Johann Jakob Wolfer - Galizien |
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Erinnerungen an meine Heimat Galizien
Die
erste Flucht 1914
An
meine Geburtsstadt im Erdölgebiet Galiziens, wo
ich bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges meine ersten
Kinderjahre verbrachte, kann ich mich, abgesehen von
einzelnen unklaren Bildern nicht mehr viel erinnern.
Ganz dunkel sehe ich noch ein ortsübliches Häuschen
mit Strohdach und dazu gehörenden Wirtschaftsgebäuden
vor mir, dahinter ein grosser Obstgarten, der durch
einen vorbeifliessenden Bach begrenzt war.
Der
Weltkrieg machte der ländlichen Idylle in der kleinen
Bezirksstadt (Anmerkung: ) ein jähes Ende. Gleich
bei Ausbruch desselben musste Vater einrücken.
Bevor Mutter noch die neue Anschrift des Vaters kannte,
hatten die Russen bereits einen grossen Teil Galiziens
im ersten Ansturm überrannt und standen Ende September
1914 vor Drohobycz.
Jeder, der fliehen konnte, floh. Darunter auch Mutter
mit drei kleinen Kindern. Mit vielen fremden Menschen
in einem Viehwagen zusammengepfercht, indem auch die
Kuh untergebracht war, die Mutter unseretwegen mitnahm,
ging die Reise los. Nach langen Irrfahrten landeten
wir schliesslich in Oberschlesien, wo wir unter schwersten
Bedingungen einen kalten und regenreichen Herbst bei
einem polnischen Bauern verbrachten, ohne jede Nachricht
von Vater. Als er uns schliesslich doch fand, nahm er
sich Urlaub und brachte uns nach Korneuburg bei Wien.
Dort verbrachten wir in einer Kellerwohnung (ein Raum)
auf der Quizdastrasse 14 den Weltkrieg mit all seiner
Lebensmittel und Kleidernot, Widerwärtigkeiten
und Sorgen um den Vater im Feld. Im
Herbst 1916 vermehrte sich die Zahl
der hungrigen Mäuler noch um eines. Wir bekamen
ein Schwesterchen, Betty. In Korneuburg überstanden
meine Geschwister und ich zwei Kinderkrankheiten, Masern
und Keuchhusten.
1917 brachte uns der Vater während eines Urlaubes wieder
in die alte Heimat zurück. In Folge der Revolution
war Russland inzwischen zusammengebrochen und die Gefahr
von Osten für 25 Jahre gebannt.
Bei Verwandten mütterlicherseits verbrachten wir
die erste Zeit in Baszina-dolna,
bei Reichau. Damals lebte mein Grossvater Christian
Gabel, ein Mann mit weissen Haaren und ebensolchem Vollbart,
noch. Nur an einzelnen Stellen schimmerte die einstige
Haarfarbe, das Rotblond, durch. Ich sehen noch meinen
Grossvater an der Schusterbank arbeiten, während
wir um ihn herumtollten und lärmten. Wenn es zu
arg wurde rief er manchmal: "Cicho!" (polnisch
Ruhe) und wir "Wiener" verstanden: "Ziech
O!" (Zieh ab!). Ganz aufgeregt erzählten wir
der Mutter, dass uns der Grossvater aus dem Hause vertreiben
will. Viel tollten wir im Hof herum, entdeckten immer
wieder etwas Neues, gingen mit den Kühen auf die
Weide und spielten mit den polischen und ruthenischen
Kindern. Ich erinnere mich gerne an diese Zeit.
Noch
schöner und ungezwungener wurde es, als wir das
kleine und nette Häuschen in Reichau bezogen. In
der Mitte des Dorfes gelegen, bot es mit seiner offenen
Veranda, dem verzierten Giebel, den rot-braun gestrichenen
Wänden und seiner ganzen Bauweise einen schönen
und für das Dorf ungewöhnlichen Anblick.
Als
die Zentralmächte die Waffen streckten, kam auch
Vater heil und scheinbar gesund, in Wirklichkeit aber
schon mit dem Todeskeim in sich, wieder nach Hause. Der
ersehnte Frieden liess aber auf sich warten, denn bald
brach wieder der polnisch-ukrainische Krieg aus, dessen
Schrecken wir zur Genüge kennenlernten. Oft pfiffen
die Kugeln um unser Häuschen, während wir
drinnen auf dem Fussboden lagen, um uns wenigstens etwas
vor der Gefahr zu schützen. Räuberbanden -
von Soldaten konnte man gar nicht mehr reden - machten
auch bei uns oft Hausdurchsuchungen und nahmen mit,
was sie gerade gebrauchen konnten. Es waren böse
Tage!
Als
friedliche Zeiten eintraten, wurde Vater bei der Staatsbahn
des neu entstandenen Polen als Blockwächter in
Jaroslau angestellt. Vorher musste er durch Schweine-
und Tabakhandel eine zeitlang den Lebensunterhalt verdienen.
Die Folgen des Krieges zeigten sich bald in Jaroslau
in Vaters Gesundheitszustand. Die lange Krankheit war
für ihn eine grosse Qual. Der Tod am 27. April
1922 war für ihn die Erlösung.
Nach
dem Tod des Vaters blieb Mutter mit sechs Kindern zurück.
Das kleinste, Ella, war in Jaroslau geboren und kaum
ein Jahr alt. Alle Ersparnisse waren wieder einmal dahin.
Bei der Flucht aus Drohobycz verloren wir unser ganzes
Eigentum, Wohnungseinrichtung, Wirtschaftsgeräte,
die neu angeschafft waren, Ernte, die die Mutter vor
der Flucht noch ganz geborgen hatte, usw. Durch den
Weltkrieg und die Inflation war das ganze väterliche
Erbe und alle Ersparnisse, die auf der Postsparkasse
und in Kriegsanleihen angelegt waren, wertlos. Das nachher
ersparte ging durch Vaters Krankheit auf. Der Traum
meiner Mutter wieder ein eigenes Heim zu haben, war
wieder dahin, nachdem wir vor Vaters Erkrankung schon
nahe dran waren. Mutters grosse Sparsamkeit war umsonst
gewesen. Nun stand sie mit sechs Kindern und einer kleinen
Pension, die noch immer gekürzt wurde, ganz verlassen
da.
Die
Wohnungsfrage, finanzielle Gründe und praktische
Erwägungen veranlassten Mutter, mit uns in die
Nähe unserer Verwandten in Baszina zu ziehen, was
in den Sommerferien 1922 geschah.
Ich war schon früher von Jaroslau weg, denn ein
Lungenspitzenkatarrh, den ich vor Ablauf des Schuljahres
bekam, hatte Mutter bewogen mich zur Erholung zu Onkel
Christian in Baszina zu schicken.
In
Malce bei Reichau fanden wir ein nettes Häuschen,
das gerade leer stand. In der Nähe des Waldes gelegen
mit einem grossen Hof und Obstgarten, war es ein angenehmer
Wohnort. Während des Sommers holten wir Beeren
aller Art, Pilze und Holz aus dem Wald und halfen damit
der Mutter sparen.
Nur der Weg in die Schule nach Reichau war weit.
Quelle:
Familienchronik Wolfer aus dem Teil Jakob Wolfer um 1941
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